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Psychologie der Trauer
Die Geschichte der Trauer ist so alt wie die Menschheit selbst. Zeugnisse für die Pflege umfangreicher
Trauerbräuche sind eindrucksvoll in den Tempeln und Gräbern des Alten Ägypten dargestellt oder etwa in den
Schriften altgriechischer Philosophen und Dichter (zum Beispiel Homer und Vergil) wiedergegeben. Das antike
Trauerspiel und die griechische Tragödie spiegeln Elemente gelebter Trauer wider. Ihre Bedeutung für die
Weltliteratur wie für das Werk „moderner" Autoren des 20. Jahrhunderts machen Teile dieser Dichtung bis heute
geltend.
In unserer vermeintlich hochentwickelten, zivilisierten Kultur prägen die Ablehnung des Todes und das
Nicht-wahr-haben-Wollen seiner letztendlich immer siegenden Übermacht auch die Art und Weise des Trauerns. Die
medizinischen Mittel, die der Mensch einsetzt, um dem Tod auszuweichen, sind immens: Die Gesundheit zu erhalten
und das Leben so weit wie möglich zu verlängern, sind die Ziele eines unbeschreiblich großen Forschungsapparates
in Medizin und Pharmazie. Obwohl sich die Wissenschaftler durch ihre Arbeit große Verdienste um die Menschheit
erworben haben, zeigt der Kampf gegen den Tod doch auch, dass der Tod als „Un-Natur" empfunden wird. Dass es
„Zeiten zum Leben und Zeiten zum Sterben" gibt, will der an Leistungsfähigkeit und Perfektionismus orientierte
Mensch heute nicht mehr akzeptieren - und zwar ebenso wenig, wie er sich und seinen Mitmenschen die im Trauerprozess
hervortretenden Gefühle für Angst und Hilflosigkeit, der seelischen und körperlichen Zerschlagenheit, des Zorns,
der Resignation und Verzweiflung eingestehen will. Angst und Hilflosigkeit interpretiert er bewusst oder unbewusst
als Schwäche. Für Schwäche aber ist in unserer auf Stärke und Unverwundbarkeit programmierten Zeit kein Platz.
So hochentwickelt die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts mithin auf anderen Gebieten sein mag, das Kulturgut Trauer
ist ihr verlorengegangen. „Von ganzem Herzen klagen zu dürfen" ist daher leider kein allgemein anerkannter Ausdruck
von Trauerfähigkeit, aber: „Von ganzem Herzen klagen zu dürfen" ist die Bewältigung einer enormen seelischen Erschütterung.
Allerdings ist die „Klage" nur eine von vielen Ausdrucksformen, derer sich durchlebte Trauer „bedienen" kann. Mit einem
schlimmen Verlust beginnt meist erst ein Leidensweg - der Trauerprozess -in dessen Verlauf der Betroffene Hinterbliebene
ganz neue, bislang ungewohnte Emotionen und Reaktionsweisen an sich entdeckt: Wut, Zorn gedankliche Aggressivität
gegen den Verstorbenen sind solche oft als unberechtigt empfundene Gefühle. Wo aber diese Erfahrungen angenommen
und richtig verstanden werden - wo also „Trauerarbeit" geleistet wird, - kann aus dem Schmerz Kraft für das neue Leben
(ohne den verlorenen Menschen) geschöpft werden.
Trauerarbeit
Für die meisten von uns ist es sehr schwer, die Endgültigkeit des Todes zu akzeptieren. Wir verstehen nicht oder wollen
vielmehr nicht wahr haben, dass der einst geliebte Mensch verstorben ist und nie wieder zurückkehren wird. Das Sterben
ist aber ein Ereignis des Lebens, das jeder Mensch eines Tages als Person und als Persönlichkeit annehmen muss. Jeder
erlebt es auf seine Weise, verkraftet oder erduldet es und setzt sich in unterschiedlicher Art damit auseinander. Sterben
ist ein individuelles, gleichzeitig auch ein soziales, also gesellschaftliches, zwischenmenschliches Geschehen, da es die
Beziehungen der Menschen zueinander unmittelbar betrifft. Mit dem einschneidenden Verlust, den der Tod darstellt, beginnt
für den Trauernden selbst ein Leidensweg, ein Trauerprozess, der ihn selbst womöglich mit ungewohnten Reaktionsweisen und
Emotionen konfrontiert. Traurig zu sein gehört zu unserem menschlichen Leben ebenso wie Freude und Glück.
Ratlosigkeit, Niedergeschlagenheit, Trauer, Wut, Schuldgefühle, Schmerz, Trostlosigkeit, offenes Weinen, Klagen, auch
ungerecht und aggressiv sein, außer sich sein; all das gehört zur Trauer. Jeder Mensch hat in seinem Leben bereits irgendeine
Phase der Trauer erlebt, sei es bezüglich eines Todesfalls oder auch durch die Trennung vom Partner. Das zentrale Anliegen
der Trauer ist das Loslassen und Abschiednehmen. Es gibt viele verschiedene Theorien über die genaue Funktion der Trauer,
doch im Mittelpunkt steht meist der Gedanke, dass der Hinterbliebene seine Bindung an den Menschen, der gestorben ist, löst
und dadurch fähig wird, künftig neue Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen. Wenn wir einen uns nahe stehenden Menschen
verlieren, so tut uns das sehr weh. Es tut weh, weil uns vieles mit diesem Menschen verbindet: Dieser Mensch erfüllte
unsere Bedürfnisse und wir erfüllten seine. Unsere Verbundenheit mit diesem Menschen ließ ein Gefühl der Nähe aufkommen.
Im Allgemeinen gewähren wir nur sehr wenigen Menschen diese Nähe. Wenn wir sie verlieren oder wenn uns bewusst wird, dass
wir sie verlieren könnten, ist es diese Verbundenheit, die uns Schmerz verursacht. Das Trauern lindert normalerweise
diesen Schmerz. Wenn Sie den Prozess des Trauerns bis zum Ende durchmachen, irgendwann in der Zukunft wieder glücklich
sein und eine enge Beziehung mit einem anderen Menschen eingehen können, so bedeutet das, dass die Trauer ihren Zweck
erfüllt hat. Bewirkt die Trauer bei einem Menschen nicht, was sie bewirken sollte, so wird er später häufig nicht mehr
in der Lage sein, tiefe Zuneigung für einen anderen Menschen zu empfinden. Ob Sie wollen oder nicht, Sie werden den Tod
des Angehörigen/Nahestehenden überleben und sollten deswegen keine Schuldgefühle haben. Es kann sehr wohl sein, dass Sie
alles darum gäben, an der Stelle des Verstorbenen zu sein, aber das steht nicht in Ihrer Macht. Sie müssen sich mit zwei
schmerzlichen Tatsachen abfinden: Ihr Freund oder Angehöriger ist gestorben und Sie werden weiterleben. Sie sind weder an
seinem Tod noch an Ihrem Weiterleben schuld. Manchmal mag es Ihnen vorkommen, als lohne sich das Weiterleben nicht mehr.
Das ist ein Gefühl, das häufig empfunden wird; es ist natürlich mächtig und lässt sich nicht leicht verdrängen. Aber wenn
Sie den Prozess des Trauerns verstehen, so wird Ihnen das helfen, zu einem späteren Zeitpunkt Ihr Leben neu zu gestalten
und die Zeit der Trauer durchzustehen, ohne dass Sie versuchen müssten, dagegen anzukämpfen oder sie zu verkürzen. So
dass sie psychisch gesund daraus hervorgehen und in der Lage sind, das Potential Ihres Lebens nach dem Tod eines Ihnen
wichtigen Menschen auszuschöpfen. Wichtig ist, dass man als trauernde Person Gehör und Zeit findet, dass man so sein
darf, wie man möchte und Verständnis sowie Begleitung erfährt. In der heutigen Zeit ist es jedoch meist recht schwierig,
diese Anteilnahme und Fürsorge bei anderen Menschen zu finden. Sicher liegt das an der Erwartung, die heute an die Menschen
gestellt wird, Trauer und die damit verbundenen ganz unterschiedlichen Gefühle so weit in den Griff zu bekommen, dass sie
das „normale und leistungsfähige" Leben nicht zu stark behindern. Denn der trauernde, verletzte Mensch, der einen für ihn
ganz einschneidenden Verlust erlebt, kann und wird sich in dieser Zeit nicht an den Leistungserwartungen messen lassen,
denen er im gewöhnlichen Alltagsleben Geltung gibt. Vielen Menschen fällt es schwer, den Trauernden ihr volles Recht auf
die Trauer zuzubilligen. Oft gilt gerade demjenigen die allgemeine Anerkennung, der seine Traurigkeit zurückhält, der es
versteht, sich „tapfer zu halten". In vielen Fällen kommt den Außenstehenden solche Zurückhaltung entgegen, denn es ist
manchmal nicht leicht, offenes Weinen, Aggressivität und Ungerechtigkeit zu ertragen oder interessiert an nicht enden
wollenden Geschichten und Erinnerungen des Trauernden teilzunehmen. Doch weder dem Betroffenen selbst noch seinen
Bekannten und Freunden hilft das Zurückhalten und die Beherrschung der Trauer auf Dauer wirklich. Jeder Mensch hat das
Recht auf seine individuelle Trauerbewältigung; und vielleicht ist es auch eine der aufrichtigsten Hilfestellungen der
Hinterbliebenen, ihm in ihrer persönlichen Anteilnahme dieses Recht einzuräumen, das heute leider nicht immer verständlich
ist.
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